Panopticon to the People

Die meiste Zeit bin ich ein gesetzestreuer Bürger. Wenn man von ein paar mal Falschparken, ein, zwei Geschwindigkeitsübertretungen, und der einen dunkelgelben Ampel absieht, ist meine Weste komplett unbefleckt. Ich hätte nichts dagegen, das kapitalistische Schweinesystem abzuschaffen, weil ich sehe, was es mit mir, meinen Freunden und Bekannten, und der Gesellschaft anstellt, aber ich probe auch nicht den bewaffneten Aufstand, ja, ich habe nicht einmal einen schwarzen Hoodie.

Trotzdem besorgt mich die Überwachung durch die Geheimdienste, die NSA, das GCHQ, BND und BfVS und wie sie alle heißen. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen bei der Datensammelwut der Onlinedienste von Facebook, blocke Werbung und Tracking-Dienste, nutze den Incognito-Modus, verschiedene Browser-Profile, gelegentlich Tor, verschlüssele meine Instant Messages und einige meiner Mails, erzwinge SSL für meine Webseite, meinen Mailserver, meinen Jabber-Server.

Und andererseits stelle ich eine Menge meiner Daten einfach so ins Netz. Das ist ein Mittel der Kontrolle – Daten, die ich selbst veröffentliche, müssen sich andere Interessierte nicht aus dritten, eventuell schlecht gepflegten oder schlicht falschen Quellen erarbeiten. Es ist aber auch ein Schritt in Richtung Transparenz, den ich wichtig finde.

Das Problem an der Überwachung, so meine These, ist nicht das Erheben und Speichern der Daten, sondern, dass das zentralisiert und intransparent geschieht. Es herrscht ein unglaubliches Machtgefälle zwischen dem*der „einfache*n Bürger*in“, als Ziel der Überwachung, und der NSA, die in einem gigantischen, verspiegelten, funkwellengeschützten schwarzen Gebäude sitzt und über zehn Milliarden US-Dollar pro Jahr für neue Technologie und Technik zur Verfügung hat und ausgibt, wo ein*e einzelne*r Mitarbeiter*in dank immer besserer „Big Data“-Tools in Sekundenschnelle Tausende Profile durchforsten und aggregieren kann. Besonders, wenn jede*r erst mal verdächtig ist.

Der überwachte Mensch hat keine Handhabe gegen das alles sehende Auge: Ihm*ihr wird weder mitgeteilt, dass er*sie überwacht wird, noch, was über ihn*sie gespeichert wird. Er*sie hat keine Möglichkeit, Dinge zu korrigieren, es gibt keine direkte Widerspruchsmöglichkeit und mittlerweile nicht einmal mehr unbedingt rechtsstaatliche Verfahren. Das Risiko, wegen eines fehlerhaften Algorithmus oder eines Eingabefehlers unvermittelt von einem Sondereinsatzkommando aus dem Bett geholt und für ein paar Jahre in einem Geheimgefängnis im Ausland zu landen, ist greifbar, wenn auch derzeit noch klein. Es entsteht ein fehleranfälliges System ohne Kontrollmöglichkeiten, sodass die Überwachung eine Gefahr für jede*n Einzelne*n darstellt.

Was aber, wenn wir unsere Daten für alle zugänglich machen? Wenn auch die NSA-Angestellten in den Datensammlungen auftauchten, und all ihre Bewegungen für jede*n nachverfolgbar würden? Wenn wir den Behörden nicht für jede noch so kleine Information hinterherlaufen müssten, sondern Polizeivideos, Auswertungen, Beschlüsse, kurz: alles automatisch öffentlich wäre? Informationsfreiheitsgesetze sind nur ein winziger Schritt in diese, richtige Richtung. Doch trotz ihrer – zaghaften – Einführung verbleibt der Aufwand, Anfragen zu stellen, immer noch bei den Bürgern. Viel zu häufig ziehen sich Behörden und andere Auskunftspflichtige immer noch mit dem Verweis auf „Geschäftsgeheimnisse“, „Vertraulichkeitsvereinbarungen“, „Urheberrecht“, und „Sicherheitsinteressen“ zurück, um der Politik und / oder Wirtschaft womöglich nicht genehme Fakten nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.

Statt des bisherigen Gerangels um Stufen und Grenzen bei Nebeneinkünften könnte einfach jede*r von uns die Steuererklärung seines*ihres Abgeordnete*n anschauen. Vielleicht sogar dessen Kontostände. Oder auch die des*der Nachbar*in. Norwegen, Schweden und Finnland machen es im Geiste des Janteloven mit öffentlichen Einkommens- und Steuerregistern schon vor (ZEIT, Spackeria, Elchburger). Wir wüssten, welches Gehalt die Büronachbarin bekommt, oder der Chef. Oder wir gehen legen noch mehr Daten offen: wie viel hat das Magazin im Wartezimmer unseres Arztes für den Artikel über ein neues homöopathisches Medikament eingestrichen? Spekuliert die BVG gerade wieder mit Millionen? Wie passierte die Kostenexplosion bei der Elbphilharmonie? Mit einem Mal ginge das ganz ohne Untersuchungsausschuss.

Hierzulande ist die Veröffentlichung solcher Daten noch völlig utopisch. Nicht zuletzt, weil da noch eine Menge Probleme zu lösen sind, was die Be- und Verurteilung von abweichendem Verhalten und Minderheiten angeht. Wollen wir Neonazi-Gruppen die Möglichkeit geben, Details über Hassobjekte in ihrer Umgebung zu erfahren, in der Hoffnung, dass die Nazis einfach vorher auffliegen würden? Was ist mit sexueller Identität, mit legitimem Widerstand gegen Missstände in Staat und Gesellschaft, wie verhindern wir, dass so einfach nur eine andere Form des Totalitarismus entsteht?

Doch der Geist geht nicht mehr in die Flasche zurück. Technologie entwickelt sich immer schneller, Überwachung und Datensammlung werden immer einfacher, schneller und robuster. Außer mittels einen Butler’schen Jihad ist auch keine Änderung dieser Entwicklung absehbar. Deshalb müssen wir uns dringend Gedanken über die Weiterentwicklung von Ethik und Gesellschaftsbild machen und einen möglichst positiven Umgang mit dem Thema finden. Für Transparenz statt Überwachung, und Empowerment statt Repression.

Was ich bereits jetzt als politische Mindestforderung für valide und wichtig halte, ist die totale Transparenz von Politiker*innen. Wer demokratisch legitimiert sein will, ist den Bürgern Rechenschaft schuldig. Hier gibt es kein Wenn und Aber. Es kann nicht angehen, dass Deutschland sich seit Jahren vor der Ratifizierung eines Antikorruptionsgesetzes drückt, dass Nebeneinkünfte nur grob gestaffelt und mit Obergrenzen angegeben werden, dass Lobbyverbindungen nicht offen gelegt werden und dass ein sehr großer Teil der politischen Wurst außer Sichtweite der Öffentlichkeit gemacht wird. Das muss sich ändern, wenn wir uns auch weiterhin demokratisch nennen wollen.

Und über alle anderen Auswirkungen und Schlussfolgerungen müssen wir dringend nachdenken, statt uns immer wieder in die gleichen alten Muster zurückdrängen zu lassen.

Vielen Dank an Lena und Katharin für Probelesen, Redaktion und beigesteuerte Ideen.

Weitere sehr interessante Lektüre zum Thema Überwachung, Überwachungskritik und gesellschaftlichem Kontext: SaU zu Überwachungskritik (via foxitalic).

8 Replies to “Panopticon to the People”

  1. Das ist imho der gleiche Denkfehler wie bei all diesen Post-Privacy-*hust*-Spackos: Wenn alle Daten transparent sind, gibt es keine Überwachung mehr. Das Gegenteil wäre allerdings der Fall. Schon jetzt gibt es massenweise Stalking-Fälle von Privat zu Privat, einfach nur über die Dinge, die freiwillig ins Netz gestellt würden.

    Wären alle Daten öffentlich, wäre dieses Problem riesig: Jeder hätte die Werkzeuge, jeden zu überwachen und genau das würde auch passieren. Man könnte natürlich sagen: "Kein Problem, dann überwach ich halt zurück", aber so sind die Verhältnisse nicht. Es gibt immer ein Machtgefälle. Der Typ, der weniger von sich preisgibt, der alte Mann, der das Netz nicht gut bedienen kann, sind im Nachteil, derjenige, von dessen Existenz Du gar nichts ahnst ist im massiven Vorteil etcetc.

  2. @Raventhird Klar gibt’s dann noch Überwachung. Aber es gibt ein riesiges Machtgefälle weniger. Vor allem gibt es die Möglichkeit zur Gegenüberwachung.

    In den skandinavischen Ländern ist die einzige Kontrolle, dass angezeigt wird, wer deine Daten eingesehen hat. Trotzdem ist die Zivilisation dort noch nicht zusammen gebrochen. Das kann man sicher nicht *einfach* auf andere Lebensbereiche extrapolieren, aber einfach wäre ja eh langweilig, oder?

  3. @moeffju: Ich empfinde es schon als sehr gruselig, dass Leute über Einwohnermeldeämter einsehen können, wo ich wohne bzw. dass ich über Impressum gezwungen werde, das preiszugeben. Wenn dann noch Kontostand und sagen wir Gesundheitsakten hinzukämen, wäre meiner Meinung nach pures Chaos vorprogrammiert. Die Menschheit ist leider nicht so gutherzig wie gedacht. Ich erinnere mich da an einen Skandalfall in so einer Finanzagentur, in der die Mitarbeiter einsehen konnten, welche jungen Frauen in der Stadt finanzielle Probleme haben. Man kann sich denken, was dann passierte.

    Aber vielleicht sehe ich das nach inzwischen zwei Fällen von mich betreffendem Stalking auch ein bisschen anders. Wozu man sagen muss, dass ich mich sehr gut gegen sowas zu wehren weiß, andere Menschen nicht.

  4. Ich stimme zu, daß beispielsweise Einkünfte von Politikern generell öffentlich sein sollten. Ich stimme auch zu, daß Bauprojekte gerade im öffentlichen Bereich maximal transparent ablaufen müssen, so daß jeder Bürger Chancen hat sich über alles zu informieren. Das liegt alles im öffentlichen Interesse.

    Aber meines Erachtens liegt es nicht im öffentlichen oder meinem berechtigten persönlichen Interesse, den Kontostand jedes Menschen erfragen zu können. Oder was jeder Mensch verdient. Oder andere persönliche Daten. Es gibt immer Menschen, die irgendeiner Minderheit angehören oder die Eigenschaften oder dauerhafte oder momentane Zustände haben, die die Gesamtgesellschaft oder zumindest eine wesentliche Mehrheit nicht gut findet, die nicht Mode sind oder die sogar geächtet werden. Und eine Öffnung wesentlicher oder aller Daten würde in letzter Instanz dazu führen, daß diese Menschen mit Eigenheiten in Richtung Gesamtgesellschaft oder Moden gegen ihren Willen normiert werden. Daher brauchen wir Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung im Privaten.

  5. @Raventhird Ich hatte auch schon meine zwei Stalkerinnen, I see where you’re coming from. Aber dein Beispiel der Finanzagentur ist doch schon ein schönes – das Problem ist das Machtgefälle. Transparenz nivelliert Machstrukturen: wären die Systeme offen, hätten die Frauen sehen können, wer sich das angeschaut hat. Oder die strukturellen Ursachen von finanziellen Problemen wären vorher offensichtlicher gewesen. Man kann bei Utopien ja lange spekulieren.

    Ich muss allerdings nochmal das skandinavische Beispiel anführen – effektiv kann ich in der Steuererklärung nachvollziehen, wer wie viel besitzt und wie viel verdient. Dort funktioniert es offenbar, obwohl es natürlich Proteste gab.

  6. @CarlKnutsen Genauso gibt es aber auch heimliche Mehrheiten, die wegen mangelnder Sichtbarkeit nicht wahrgenommen oder akzeptiert werden.

  7. Um mal das Beispiel "Verdienst und Steuern" aufzugreifen. Die komplett offen zu legen, löst kein Problem.

    Für die meisten Deutschen lässt sich dank Tarifverträgen prinzipiell gut abschätzen, wieviel Geld sie verdienen. Wie extra ausgehandelte Boni oder Diskriminierung reinspielen, ließe sich mit offenen Steuerregistern auch nicht nachvollziehen. Da bräuchte es weitere offene Daten (etwa Beschäftigungsdauer etc.) und selbst dann bleibt der Erkenntnisgewinn mau. Dass typische Frauenberufe oft schlechter entlohnt werden, weil sie anders bewertet werden und auch Berufskrankheiten nicht anerkannt werden, wird sich damit nicht ändern.

    Damit wird nur ein kleines Machtgefälle eingeebnet. Nicht zuletzt Alice Schwarzer hat bewiesen, dass das größte Problem im Verborgenen liegt. Dort, wo Menschen die Macht und die Mittel haben, ihr Geld vor dem Finanzamt zu schützen (und Schwarzer ist da vermutlich einer der kleineren Fische).

    Bei Politiker_innen ist das Offenlegen natürlich eine andere Sache (die Sache mit der Macht wieder) aber es dürfte allen klar sein, wohin Lobbygelder gehen werden, wenn mehr Transparenz verlangt wird. Angehörige, Vereine…

  8. Ich glaube, dass die DatenschutzaktivistInnen recht haben mit dem Gegenargument, dass zu viele Menschen ein teilweise lebenswichtiges Interesse an Privatheit haben. Das gilt auch in unserer Gesellschaft. Etwa Frauen, die sich vor ihren gewalttätigen Partnern oder ihren Familien in Frauenhäuser oder andere Schutzräume flüchten müssen.

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