Zucker für den Geist

Skandale hier, Empörung dort, leidende Menschen in dieser Region und Demonstrationen in jener. Schlagzeilen — „Nachrichten“ — sind überall, und sie ähneln sich, vor allem in einer Sache: Sie sind ohne Substanz, und sie sind für unser tägliches Leben ohne Relevanz. Und dennoch konsumieren die meisten Menschen sie, täglich, oder, im Internet-Zeitalter kein Problem, auch mehrmals täglich.

Wozu? Eine Empörungswelle jagt die nächste, morgens im Büro kann man sich über die tagesschau von gestern echauffieren, im Altherrenclub muss man die richtige Zeitung dabei haben, auf Papier, versteht sich, und hast du gehört, was in der Türkei gestern wieder passiert ist? Die allermeisten Nachrichtenmedien sind Akkupacks für Smalltalk, die Hanky-Codes der Bildungselite, oder eine gesellschaftlich legitimierte Form der gesellschaftlichen Stratifizierung. Berichtet wird, was die Leser wollen; so selektiert sich die Leserschaft wiederum selbst, und jede Tageszeitung erarbeitet sich eine Nische, jede Wochenzeitung hat „ihre“ Leserschaft, und wer die FAZ und die WELT und die ZEIT liest, der ist wohl nicht ganz richtig im Kopf.

Die Gier nach Schlagzeilen ähnelt dabei der Gier nach Süßigkeiten. Vor ein paar Zehntausend Jahren war es dem Überleben zuträglich, eine einfache, schnelle und risikoarme Quelle für Energie zu finden: Beeren und Früchte bieten für einen gewissen Zeitraum des Jahres Glucose und Fructose an, man muss sie nicht erkämpfen, sondern bestenfalls vor den anderen Tieren finden. Entsprechend belohnt unser Gehirn den Konsum von Zucker mit der Ausschüttung von Botenstoffen, die positive Gefühle auslösen und somit das Verhalten bestärken. Heutzutage sind Kohlenhydrate in jedweder Form nicht nur verfügbar, sondern unglaublich billig, und es ist schwer, ihnen zu entkommen, besonders weil wir immer noch die selbe Belohnungsreaktion haben.

Mit „den Nachrichten“ geht es analog zu: In kleinen Gemeinschaften von Jägern und/oder Sammlern ist jedes bisschen Information potentiell überlebenswichtig. Von der Kenntnis des Terrains und der „Mitbewerber“ (andere Raubtiere) bis zu dem gossiping über soziale Verhaltensweisen anderer wird jede Information gierig aufgesogen und gespeichert. Doch dann kam die Kultur, und mit ihr die Kulturtechnik der schriftlichen Überlieferung, und der Hockey Stick der Zivilisation erreichte seinen Inflection Point: Von Steintafeln über Leder und Papyrus zum Buchdruck, zu Tageszeitungen und Telegraphie und dem Radio, dem Fernsehen und schließlich der weltumspannenden Vernetzung steigerte sich die Schlagzahl exponentiell. Heute kann man ohne Probleme mehrere Hundert Nachrichtenquellen vermengen und konsumieren. Ohne dem Kulturpessimismus das Wort reden zu wollen: Wir sollten eingehend hinterfragen, ob wir diesen technologischen Mitteln mit den archaischen Denkschemata der Steinzeit begegnen wollen und können.

Das Problem ist nicht der Journalismus, per se. Es gibt tiefschürfende Analysen, hervorragende Reportagen, die Hintergründe erklären, Verbindungen aufzeigen, ins Detail gehen. Die mensch Dinge über die Welt lehren. Denn natürlich leben wir in einer Welt, die nicht nur wirtschaftlich globalisiert ist, sondern auch technologisch und militärisch mobilisiert. In der uns eben auch Dinge betreffen können, die auf der anderen Seite der Erde passieren, oder ein paar Länder weiter, oder im Haus nebenan. Deshalb geht es sicher nicht darum, dem Journalismus abzuschwören. Aber tun wir uns einen Gefallen mit dem häppchenweisen Konsum von kleinsten Bröckchen aus dem wenig nahrhaften Strom der Headlines? Oder beschäftigen wir uns nur damit, uralte Triebe zu befriedigen, wie eine Ratte, die immer wieder einen Hebel drückt? Wollen wir diese sehr naive Form des Glücks voll auskosten, um am Ende biologisch befriedigt mit einem boulevardesken Lächeln im Gesicht zu sterben?

Ich möchte das nicht. Ich habe mich diesem Sog entzogen und nutze die Möglichkeiten der vernetzten Welt — Zivilisation hat ja nicht nur Nachteile — um mich zu weniger Themen tiefergehend zu informieren. Oder um mir möglichst aktiv und möglichst breite Informationen ungefiltert zu verschaffen: Ungefiltert von „was die Leser wollen“, weil ich so viele Quellen zur Auswahl habe. Ungefiltert von der Weltsicht eines Autors oder einer Redaktion, weil ich so viele Autoren und so viele Redaktionen auswählen kann, wie ich möchte. Natürlich, Objektivität wird eine Illusion bleiben, so lange Menschen involviert sind. Doch die Möglichkeiten sind so viel besser geworden. Medienkompetenz bedeutet sowohl, gewisse Medien bewusst nicht zu nutzen, als auch die Arbeit selbst zu machen, die man früher an Redaktionen und Herausgeber ausgelagert hat: Die Selektion der Quellen, die Entscheidung, über welche Themen man sich wie tief informieren möchte, und schließlich auch die Entscheidung, worüber man sich empört: Welche Anliegen sind mir wirklich wichtig genug, um meine Energie hinein zu stecken, länger als die paar Tage Halbwertszeit eines durchschnittlichen Aufmachers?

2 Replies to “Zucker für den Geist”

  1. @Der_Jan Keine Zeitungen lesen, Massenmedien vermeiden. Statt dessen aggregierte Nachrichtenseiten und -quellen verwenden, von Google News bis Twitter. Selbst nachforschen, da viele Daten mittlerweile Open Access sind, und Wikipedia wird auch immer besser. Und auch Social Media kann helfen, um Stimmen „vor Ort“ zu befragen.

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