Aufgeräumt: #amazonfail

Bei Amazon haben über Ostern eine ganze Menge an Produkten ihren Verkaufsrang verloren und sind in der Suche nicht mehr auffindbar. Da das Problem vornehmlich Literatur betrifft, das von der heterosexuellen, monogamen Norm abweicht – Gay/Lesbian/Bi/Transgender, Queer, Polyamory, etc. – lag für viele der Schluss nahe, dass Amazon hier absichtlich ihnen ungenehmen Inhalte zensiert, vielleicht gar absichtlich zu Ostern.

Sinnvolle offizielle Statements von Amazon gibt es nicht. Die Support-Dronen, stets bemüht, aber unbedarft gegenüber dem #amazonfail Shitstorm, der sich draußen zusammenbraute, haben es nicht zu mehr als zu “diese Bücher wurden als ‘Adult Product’ eingestuft, und ‘Adult Products’ werden aus dem Verkaufsrank und der Suche genommen”. Das ist allerdings keine neue Policy von Amazon, die nur bisher wenig Wellen geschlagen hat, weil die meisten ‘Adult’-Produkte nie als ‘Adult’ markiert wurden.

Sehen wir uns doch mal Amazon, die Firma, an: Sie sitzen in Seattle, einem Staat, der bisher nicht für religiösen Fanatismus bekannt ist. Das Team ist ein Haufen liberaler Kommunisten-Hippies, und die Firma hat eine mustergültige Gleichstellungspolitik, die sich nicht nur auf biologisches Geschlecht, sondern auch auf sexuelle Orientierung usw. erstreckt. Klingt nicht nach der Art Organisation, die im Handstreich mal schnell eine Menge Bücher verbrenntzensiert.

Betrachten wir Amazon, die Webseite bzw. den Dienst: Amazon ist längst nicht mehr nur der Online-Buchhandel. Man verwaltet bei Amazon eine gigantische Datenbank von Produkten. Diesen Bestand zu pflegen, würde einen unglaublichen Aufwand bedeuten – und deshalb pflegt Amazon ihren Bestand kaum mehr als z.B. Google ihren Index von Hand durchkämmen. Wenn Fehler und Inkonsistenzen gemeldet werden, schaut man sich die Sache mal an, ansonsten legt man die ganze Arbeit in die Hände von Algorithmen. Und so werden auch die Listen von ‘Adult Products’ höchstwahrscheinlich erzeugt: Wenn sich genug Leute beschweren, wird das Produkt erst mal geflaggt, und dann auf Anfrage – manuell, und damit langsam – wieder freigeschaltet.

Normalerweise ist das kein Problem – dank der guten Suche und der Empfehlungs-Engine bekommt man bei Amazon nur selten Dinge zu sehen, die man nicht sehen möchte. Noch seltener Dinge, über die man sich auch noch beschweren möchte. Das heißt aber eben auch, dass der Schwellwert für eine Aktion relativ gering ist. Alles, was es also braucht, um unerwünschte Inhalte aus Amazon rauszubekommen, ist eine konzertierte Aktion, wie sie entweder (religiöse o.ä.) Interessensgruppen starten können, oder eben Internet-Trolle.

Dabei spricht einiges für die Bantown-Theorie von tehdely. Entsprechend versierte Trolle könnten bei Amazon recht schnell automatisiert eine ganze Gruppe von Produkten flaggen lassen. Dabei wählt man Produkte, die sich an eine Minderheit richten, die sich sowieso schon sehr unterdrückt vorkommt und daher schnell und laut zurückschlägt. Und, mit etwas Glück, kommt dann auch noch ein “Glitch” hinzu, z.B. falls Amazon aus vielen Beschwerden automatisch Schlüsse zieht und zum Beispiel vorsorglich auch alle ähnlichen Produkte entfernen würde.

Bonuspunkte gibt es für die Wahl des Zeitpunktes – über Ostern werden die Büros auch bei Amazon nicht voll besetzt sein, und diejenigen, von denen man sich Stellungnahmen erhoffen würde, sind ebenso schwerer erreichbar wie die Medien, in denen die Stellungnahmen auftauchen würden.

Ohne aber irgendein Feedback von Amazon zu haben, finde ich die aktuellen Reaktionen – so sehr mir auch die Causa Rede-, Meinungs- und Sexualitätsfreiheit am Herzen liegt – übertrieben.

Update (2009-04-13 23:17 CEST): Über zwei Ecken habe ich nun aus Amazon gehört, dass die Glitch-Theorie doch wahrscheinlicher ist. So sollen knapp 60.000 Bücher versehentlich falsch kategorisiert worden sein, und die Automatik hat dann den Rest erledigt und die Bücher aus Sales Rank und Suche entfernt. Man arbeitet wohl mit Hochdruck an der Behebung der Sache und ärgert sich über die schlechte Außenkommunikation.

Update (2009-04-14 10:57 CEST): Seattle PI scheint die Glitch-Theorie zu bestätigen.

Update (2009-04-14 16:30 CEST): Wieso behauptet jeder, der Kundenservice habe eine “neue Policy bestätigt”? Die Policy, Adult-Produkte zu filtern, gibt es schon lange, und mit keinem Wort wird vom Support eine “neue” Policy erwähnt! Anyway, hier gibt es dann einen Inside Look eines Amazon-Mitarbeiters. Und #SorryAmazon. Wie gesagt.

Update (2009-04-16 16:27 CEST): Clay Shirky zum Thema. Die Kommentare sind ebenfalls interessant.