Ein Freund erzählte mir neulich von einem Erlebnis in Berlin. Er arbeitet als Freelancer und verbringt gerade etwa die Hälfte seiner Zeit dort. Einmal wollte er sich was zu essen holen, bemerkte aber erst beim Bezahlen, dass er sein Portemonnaie nicht dabei hatte. „Kein Problem”, sagte der Mensch hinter dem Tresen, „zahl’s einfach nächste Woche“.
Ein anderes Mal passierte eine ähnliche Situation bei einem Friseurbesuch: Kein Bargeld dabei. Direkt um die Ecke wäre ein Geldautomat gewesen, trotzdem wurde ein Pfand gefordert und sich Personalausweisnummern etc. notiert.
Der erste Fall ist offensichtlich eine deutlich bessere Erfahrung für alle Beteiligten: Obwohl es keine vorige längere Kundenbeziehung gab – er war kein Stammgast, und der Imbiss hat einen sehr hohen „Durchsatz“ – gab es einen Vertrauensvorschuss und die ganze Sache war schnell geregelt. Die meisten Menschen wollen ein solches Vertrauen auch nicht enttäuschen: Unehrlichkeit und Ausnutzung „des Systems“ geschieht fast immer nur dann, wenn die Beteiligten sich nicht wertgeschätzt fühlen. Aber selbst, wenn mein Bekannter nicht irgendwann in den nächsten Tagen gezahlt hätte, wäre der Verlust für den Verkäufer verschmerzbar gewesen. Die Abwägung war also: Aufwand für den Verkäufer, schlechte Erfahrung für den Kunden, Unterstellung von Misstrauen/Unehrlichkeit auf der einen Seite, versus einen Verlust von ein paar Euro Wareneinsatz auf der anderen Seite, davon ausgehend, dass das Risiko für einen Ausfall eher gering ist.
Im anderen Fall wäre die Abwägung genau die gleiche gewesen: Mit einem Kunden, dem die ganze Sache eh schon peinlich ist, über ein Pfand zu diskutieren, ist aufwändig und für beide Seiten unangenehm. Auch der potentielle Verlust ist eher niedrig, und auch im Ausfallrisiko unterscheiden sich die Fälle nicht. Hinzu kommt, dass in dem Fall bereits eine längerfristige Kundenbeziehung bestand. Trotzdem wurde der Weg des Misstrauens gewählt.
Meiner Erfahrung nach ist Vertrauen und guter Wille die beste Basis für Beziehungen mit anderen Menschen, gleich welcher Art. Es erfordert viel weniger kognitiven Aufwand, sich Warnungen für die paar Menschen zu merken, die Vertrauen enttäuscht haben, als sich für alle Menschen zu merken, was man ihnen wann weshalb gegeben hat. Ich erwarte auch keine Gegenleistungen für die meisten Dinge, und wenn, dann kommuniziere ich das so offen wie möglich. Für die meisten Interaktionen ist es schädlich, sie als Tit-for-tat-Transaktionen zu betrachten: Menschen sind soziale Wesen; Markttransaktionen außerhalb von klaren Märkten unnatürlich. Enttäuschte Erwartungen machen ebenso unglücklich wie das andauernde Gefühl, den meisten Menschen nicht trauen zu können.
Versucht das doch mal.
Das funktioniert so lange bis es ein, zwei mal nicht funktioniert. Da ist dann der Vertrauensvorschuss aufgebraucht.
Nachtrag: Als freelancer verlange ich von Neukunden ab einem bestimmten Umfang eine Vorauszahlung. Das ist das Ergebnis von schlechten Erfahrungen, die ich machen musste.
@m Bei mir funktioniert es jetzt seit vielen, vielen Jahren. Ich gehe aber auch an die meisten Situationen mit einer Art Risikoanalyse ran: Was könnte passieren, und wie käme man da wieder raus. Wenn also z.B. meine Existenz bedroht wäre, wenn ein Kunde nicht oder nicht schnell genug zahlt, würde ich auch Vorauszahlungen oder Teilzahlungen vereinbaren. Das ist aber situationsabhängig – mir geht es um das „Default“.
Wenn alle Leute um dich herum so gute, ehrliche Menschen sind – wieso schließt du dann noch deine Wohnungstür ab wenn du gehst?
@horst Weil es einen Unterschied zwischen persönlicher Interaktion zwischen Menschen und, äh, Einbrüchen gibt?